So now, what?
Mal wieder die Fragen aller Fragen. Die letzten sechs Wochen hat Rio de Janeiro uns als Nordstern gedient und unserem Roadtrip entlang Brasiliens Costa Verde eine Richtung vorgegeben. Wie nach einem Projekt, auf das man länger hingearbeitet und erfolgreich zum Abschluss gebracht hat, folgt danach die unweigerliche Frage: Was nun?
Auf der Landkarte sieht es so aus, als hätten wir in sechs Wochen gerade mal zwei, drei Nachbardörfer in Brasilien besucht. Dabei waren wir in so vielen Orten, haben so viele Plätze besucht, in so vielen unterschiedlichen Betten geschlafen. Die Dimensionen dieses riesigen Landes sind unvorstellbar. So auch die Optionen, was wir hier noch alles sehen, machen, erleben könnten.
Gleichzeitig hören wir innerlich eine klare Stimme, die immer wieder “weiter” antwortet, wenn wir uns fragen, wohin es als nächstes gehen soll. Ok, ich höre sie :D Anstatt noch weitere Stationen in Brasilien einzuschieben – die alle mit mehreren Flügen verbunden wären bei diesen gigantischen Distanzen – entscheiden wir uns schließlich für den direkten Weg zu unserem nächsten Ziel: Die Karibikküste Kolumbiens!
Mit dieser Region verbindet mich bereits eine 15-jährige Geschichte. Seitdem möchte ich schon dahin. Haben wir einige Monate zuvor bereits die untere Hälfte Kolumbiens ab Medellín besucht, steht AUF JEDEN Fall jetzt noch die Karibikküste an. Und dort eines der wenigen Erlebnisse, die wir von Anfang schon fest eingeplant haben: Die Segelüberfahrt von Cartagena in Kolumbien nach Panama City.
Bevor wir uns allerdings Richtung kolumbianische Gefilde orientieren, steht noch ein Programmpunkt an, ohne den ich Brasilien – und ganz besonders Rio de Janeiro – nicht verlassen kann: Der Besuch des ikonischen Wahrzeichens Rios und der wohl berühmtesten Statue der Welt: Cristo Redentor!
Let’s Do It!
Ein Tag vor Abflug haben wir eine Unterkunft ganz in der Nähe dieser weltbekannten Sehenswürdigkeit gefunden und unser Transport soll uns von der Ilha Grande bis ganz vor die Haustür fahren. Für eine letzte Sehenswürdigkeit, einen letzter Eindruck, eine letzte Nacht in Brasilien.
Allerdings muss man zur Unterkunft auch erstmal hinkommen. Mit dem Speedboot von der Ilha Grande 20 Minuten zum Festland düsen, kein Problem. Vom Bootsanleger gemütlich knapp drei Stunden entlang der schönen Costa Verde nach Rio de Janeiro fahren, easy. Durch die Stadt anderthalb Stunden bis schließlich zur zentral gelegenen Unterkunft gefahren werden, ALTER SCHWEDE!
25 Minuten am Stück fahren wir durch eine dichte Dunstglocke aus Abwassergeruch und gärendem Schlickgeruch. Danach folgt die ultimative Ruckelfahrt durch die steilen Gassen und engen Kurven des hochgelegenen Viertels Cosme Velho in Rio. Bei dem grobem Kopfsteinpflaster und den unzähligen Straßenhuckeln hüpfen mir ständig die Brüste hoch oder wir fliegen ganz aus dem Sitz 🙄 Irgendwann kommen wir aber auch nach dieser Fahrt mal an und finden zum Glück noch einmal die Bestätigung, dass man in Rio tatsächlich ganz schön unterkommen kann.

Im Jo&Joe lassen wir uns die Annehmlichkeiten eines modernem, großen Zimmers sehr gefallen, um uns zu sortieren und den baldigen Abflug nach Kolumbien vorzubereiten.
Cristo
Am nächsten Morgen mache ich mich auf den Weg zur Cristo-Statue. Da Udo die Statue schon von früheren Besuchen kennt und der Eintritt immerhin 25 Euro kostet, fahre ich alleine. Im voll besetzten Zug geht es im Schneckentempo den Corcovado-Berg hoch zur Statue. Schon cool, der Weg verspricht jetzt schon einen tollen Blick über die Stadt.
Und dann ist er da. Zunächst sehe ich nur den Rücken, bis ich mich nach etlichen Stufen schließlich zum obersten Plateau hochgearbeitet hat und die Statue in ihrer ganzen Pracht betrachten kann.


Die weltberühmte Cristo-Statue, auch Cristo Redentor (Christus, der Erlöser) genannt, bietet bekanntermaßen einen atemberaubenden Panoramablick auf die Stadt Rio de Janeiro und die umliegende Landschaft. Ich bin erstmal von der Statue selbst vollkommen in den Bann gezogen. 30 Meter hoch und mit einer Spannweite von 28 Metern ragt der Betonriese vor mir empor wie zuvor so viele Baumriesen in den Regenwäldern Lateinamerikas. Und genauso eine Ruhe, wie sie von Jahrhunderte alten Bäumen ausgestrahlt wird, empfinde ich auch hier.
Aus Beton und Spezialsteinen gebaut, wiegt die Statue etwa 635 Tonnen. Unbeweglich, standhaft, überdauernd. Die Cristo-Statue wurde als Symbol des christlichen Glaubens und als Zeichen der Dankbarkeit der brasilianischen Bevölkerung gegenüber Gott erbaut. Sie gehört zum UNESCO-Weltkulturerbe und ist ein bedeutendes Symbol für Frieden, Toleranz und Einheit. Die Statue dient auch als Pilgerstätte für Gläubige und zieht jährlich Millionen von Besuchern an, für die sie als Symbol der Stadt in Erinnerung bleibt. So auch für mich.
Umgeben bin ich von zuerst zig, dann hunderten, schließlich tausenden von anderen Touristen, die an diesem Tag das selbe Ausflugsziel nach hier oben haben, wie ich. Am Ende quetsche ich mich in jede Richtung an Schultern, Hintern und Bäuchen vorbei, um überhaupt von der Stelle zu kommen und noch den einen oder anderen Blick über die Stadt erhaschen zu können. Aufziehende Wolken legen sich plötzlich wie ein Schleier über das sich vor mir erstreckende urbane Panorama. Binnen Minuten sind wir oben auf dem Berg in eine Wolkendecke eingehüllt, die sogar die gigantische Cristo Statue für einige Momente vor aller Augen komplett verschwinden lässt.
Dafür wird an anderer Stelle, ein bisschen weiter unten, ein weiteres Unterhaltungsprogramm geboten: Eine Gruppe von Affen schwingt sich in luftigen Höhen von Baum zu Baum und einige Äffchen sitzen sogar ganz unbeeindruckt direkt neben der Hauptplattform der Statue und lassen sich von den paparazziartigen Fotoattacken der Touris gar nicht aus der Ruhe bringen. Hier braucht es keinen roten Teppich. Hier braucht es nur einen Affen, der irgendwo sitzt – und zwar lange und ruhig genug, bis die etlichen Smartphones und klickenden Spiegelreflex Kameras scharf gestellt und zwei bis dreistellig oft ausgelöst wurden.
Auch hier fühle ich wieder die besondere Energie dieses Ortes. Die Ruhe, die vom Cristo ausgeht, der Blick in die Weite über die Stadt Rio. Selbst unter so vielen anderen menschen ist die Energie hier außergewöhnlich. Das merken wohl auch die anderen. Wie schon beim Machu Picchu in Peru darf ich auch hier einen Heiratsantrag zweier Love Birds aus nächster Nähe miterleben.
Ein bisschen Melancholie schwingt mit, als ich meinen Blick schweifen lasse. Es ist ein Abschied. Ein Abschied von diesem Ort, von diesem Land. Ob ich noch einmal hierher komme? Ich weiß es nicht. Die Welt ist groß. Es gibt so viele Orte auf der Welt. Und vergleichsweise wenig Lebenszeit, um alle zu besuchen. Geschweige denn mehrmals. Die meisten Orte, Unterkünfte, Restaurants, Begegnungen und Erlebnisse auf dieser Reise werden einmalige Erinnerungen bleiben.

Das finde ich manchmal ganz schön traurig. Schließlich prägt jedes Ereignis, jede Erfahrung, jede Erinnerung den eigenen Lebensweg ein Stück weit mit. Entsprechend pflege ich im Sinne der Wertschätzung gerne ein kleines Abschiedsritual, wenn wir weiterreisen: Ich verabschiede mich ganz offiziell von Personen, Zimmern, Orten, Erlebnissen (auch ausgedienten Klamotten oder Gegenständen 😁), denn es hat ja auch immer etwas von Endgültigkeit. Augenzwinkernd hat Udo schön öfter mal gefragt: Können wir los oder musst du dich erst noch von was verabschieden? 😂

Hier in der ruhegebenden Energie der Cristo-Statue mit Blick auf die Stadt verabschiede ich mich von einem besonderen Land, das mich auf ganz unerwartete Weise auf vielen Ebenen berührt hat.
Zum Abschied: Gedanken zu unseren sechs Wochen in Brasilien
Wenn jemand fragen würde “wie war Brasilien?”, würde ich gar nicht so schnell antworten können. Udo hat es da wohl leichter. “Gut” wäre mit ziemlich hoher Trefferquote seine Antwort 😆 Tatsächlich hatten wir insgesamt eine ziemlich gute Zeit in Brasilien. Gleichzeitig hat bisher kein anderes Land in Lateinamerika derart auseinander driftende Entwicklungen und Gegebenheiten in sich vereint. In keinem anderen Land habe ich bisher so ambivalente, gegensätzliche Empfindungen so nah nebeneinander erlebt, wie hier.
Da ist auf der einen Seite die üppigste und farbenfroheste Vegetation, die man sich vorstellen kann. Unangefochtene Spitze der bisherigen Länder. Da sind auf der anderen Seite die schäbigsten und seelenlosesten Unterbringungen, die deprimierende Stimmung verbreiten, sobald man seinen Kopf zur Tür hinein streckt. Ebenfalls unangefochtene Spitze. Nur leider nicht zum Vorteil.
Da sind die Lebensfreude, die körperliche Offenherzigkeit und die größte Feierstimmung der Welt auf der einen Seite. Vor Weltoffenheit und Toleranz wird nur so gestrotzt. Andererseits herrscht die oft absolute Reduzierung der Kommunikation auf die eigene Landessprache, was jegliches Andocken, Integrieren und Teilhaben immens erschwert. In dieser extremen Form ist auch das einzigartig bei den bisherigen acht Ländern.
Da sind einzigartigen Naturschätze, Nationalparks und einige der weltweit schönsten Strände, Buchten und Wälder auf der einen Seite. Und da sind andererseits die UNMENGEN an Plastikmüll und Unrat, die allzu oft die schönsten Plätze und Orte in verdreckte, stinkende Müllecken verwandeln.

Hier ein bunter Mix aus den vielen Facetten des Landes, die uns in Brasilien im Vergleich mit den bisherigen Ländern besonders aufgefallen sind:
- Die größte Biodiversität an Pflanzen von allen Ländern 💚 Die meisten Bilder von bunten Blumen und verflochtenen Bäumen machen wir hier.
- Es wird viel Fahrrad gefahren am Straßenrand. Und man sieht einige Jogger. Outdoor Fitnessgeräte und Sportgruppen am Strand bieten einen ebenfalls neuen Anblick.
- Kontrast an Körperkultur: Brasilien: viel nackte Haut, großflächige Tattoos, Viel Silikon, Fake Wimpern und extra lange bunte Fake Nägel, dazu lange, offen getragene Haare. Zum Vergleich Bolivien vorher: außer Gesicht und Hände werden alle Körperstellen in traditioneller Garderobe in mit Textil bedeckt. Dazu gehören zwei lange Flechtzöpfe und ein Hut.
- Bunte Flatterkleider und Röcke sieht man überall. Im Gegensatz zu eher gedeckten Farben vorher.
- An jedem Straßenkiosk, in jeder Apotheke, Supermarkt und Tante Emma Laden kann man FlipFlops kaufen (immer Havaianas)
- Es gibt Shopping Malls! Sogar mit ein paar bekannten Marken wie C&A. Security Personal fährt mit Segways durch die Gänge. Allerdings haben wir im Food Court auch hier bei über 50 Essensständen Mühe, etwas ohne Fleisch zu finden. Die Rettung: Ein Asiate. Selbst der Veggie Burger von McDonalds hat es noch nicht bis nach Brasilien geschafft.
- Vegan bedeutet hier: Eier und Käse, Vegetarisch bedeutet: Schinken und Speck (…)
- Speisekarten, Schilder und Hinweise in Unterkünften: ausschließlich auf portugiesisch. Es gibt wohl genug Brasilianer als Gäste…
- Ananas heißt auf spanisch piña, auf portugiesisch abacaxi. So viel dazu, wie hilfreich meine Spanischkenntnisse in Brasilien sind…
- Unser brasilianischer Sonntagskaffee: zwei Caipis und eine große Açai Bowl 😅
- Es gibt (öffentliche) Mülleimer!!! Leider trotzdem viel rumfliegender Müll.
- Im Hostel wird man vom Personal mit Namen angesprochen – den merken sich alle. Das fällt uns nach über 50 Unterkünften auf der bisherigen Reise besonders auf.
- Gute Bewertungen bei schlechten Unterkünften: dreckig, lieblos, kaputte Einrichtung – sowas hat hier gerne eine Bewertung von 8.5 aus 10 Sternen 😒 Ist es dafür besonders günstig? Nope.
- Beispielhaftes Küchenequipment, das zur Verfügung gestellt wird: 3 Tassen, alle mit abgebrochenem Henkel, keine Schüsseln, keine tiefen Teller, 4 Messer, keine Gabel
- Fliegengitter an den Fenstern im Regenwald? Von wegen.
- Preisspanne bei Restaurants: komplette Schere von sehr günstig (und gut!) bis zu extrem teuer (und nicht notwendigerweise gut)
- Lustige und bekannte Biernamen: Opa Bier, Eisenbahn, Spaten
- Servietten sind im Resto nochmal extra einzeln in Einmalpapier eingepackt 😑
- Typisch kulinarisch: Tapioca und Maniokmehl
- Beliebte Geschmacksrichtungen von Caipirinha: Lemon, Mango, Maracuja, Açai, Ananas – wir probieren alle 😋 Favorit: eigentlich alle 😂
- Griff zum Google Translator: Da Englisch hier nicht sehr verbreitet ist, zücken die Brasilianer (und schnell auch wir) stets ihr Handy, um das Nötigste miteinander klären zu können. Hilfreich für den Moment, aber leider nicht so förderlich für die Entwicklung der Sprachkenntnisse – auf beiden Seiten.
- Brasilianer mögen es gerne voll und laut. Auch am Strand. Oder im Wald. Wo unsereins sich gerne dem idyllischen Moment hingeben und die wunderbare Natur mit allen Sinnen genießen würde, wird gerne die JBL Box unterm Arm voll aufgedreht. Nicht die kleine Box. Die dicke große…
- Musik: Für uns bekannte, amerikanische Musik läuft kaum. Es wird brasilianische Musik gespielt in allen möglichen Richtungen.
- Temperatur Achterbahn: Von 18 Grad in Curitiba auf 28 Grad auf der Ilhabela, bis über 35 Grad in Rio de Janeiro und stehende Hitze auf der Ilha Grande. Dann von einem Tag auf den anderen Regen und wieder 12 Grad kälter
- Geschwindigkeitshubbel auf den Straßen: Werden uns in Deutschland sicher nicht fehlen 😅
- Neuer High Score an Insektenstichen: 98 Stiche an einem Unterschenkel. Und zwar nicht von Mücken, sondern Sandfliegen oder irgendwas anderem, das klein und fies ist.
- Gerüche sind überall anders und nicht immer gut: Frittenfett, gegrilltes Fleisch, Abwasser, Gras (nicht die Wiese…), Schweiß, Dixi Klo, Deo…. In der Hitze zum Teil eine ganz schwierige Mischung.
- Größte Toleranz und Vielfalt im Erscheinungsbild und Auftreten der Menschen. Eng an eng: Anderswo ein unschönes Gedränge, hier eine freudige Party 😃
Mit unzähligen vielfältigen Eindrücken aus Brasilien ist es irgendwann Zeit für uns zum Flughafen aufzubrechen.

Gedanke: Drei bis vier Stunden am Flughafen warten: kein Problem. Sieben Stunden fliegen? Ein Klacks. Nach etlichen Busfahrten von acht Stunden und mehr, ab und zu sogar über 16 Stunden, ist alles bis zu einer Handvoll Stunden kaum noch der Rede wert für uns. Ich erinnere mich noch gut an Zeiten, wo eine Stunde Wartezeit mich schon in nervöses Schwitzen versetzt hat. Mal sehen, wie lange der aktuell entspannte Zustand zurück in Deutschland anhalten wird.
Kolumbien: Here we come again!
Schreibe einen Kommentar