workation Diary

#12 Alone Away Again

Mazunte

Der Abschied ist wiedermal blöd, weil ich Udo gar nicht gerne gehen lasse. Gleichzeitig freue ich mich auch auf die Zeit ohne ihn, weil das bedeutet, dass ich nochmal eine andere Art des Reisens erlebe. Und so geht es auch gleich für mich weiter. Ich warte am Stand der Colectivos, um nach Mazunte, das Nachbardorf von Zipolite, zu kommen und werde sogleich von einem netten Kolumbianer angesprochen, der hier wohnt und auch dorthin will. Wir quatschen ein bisschen und vertreiben uns so die Zeit bis zur Abfahrt. Er sagt, dass er in Mazunte arbeitet und noch etwas Zeit hat, wenn ich möchte, kann er mir ein bisschen was zeigen. Warum nicht, denke ich mir. Ich muss mich sonst eh rumfragen, wo was ist. So bringt er mich gleich zum schönsten Strand und besteht noch darauf, mich zu einem Getränk auf eine Terrasse mit Meerblick einzuladen.

Sein freundliches Angebot, einen Roller zu leihen und gemeinsam noch ein Aventura (Abenteuer) zu erleben – was auch immer das hier heißen mag *räusper* – lehne ich aber dankend ab und erkläre ihm, dass ich gerne noch etwas Zeit nur für mich hätte. So ziehe ich nochmal alleine durch die wenigen Straßen des Ortes. 

Blackout – und keinen interessiert’s

Dass überall Stromausfall ist und zwar schon seit Stunden, fällt mir erst gar nicht auf. Nur dass ich nirgends ins Wlan komme und alle Shops dunkel sind, erinnert mich immer mal wieder daran. In Deutschland würden nach mehreren Stunden ohne Strom wahrscheinlich alle durchdrehen. Hier fällt es nicht mal groß auf, alle Leute gehen weiter ihrer Wege. Und ich kaufe im Dunkeln in einem urigen Yogi-Laden endlich gemahlenen Zimt ein, wonach ich schon lange suche, dazu Cacao aus der Region und ein leckeres Granola für mein Frühstück. 

Centro Mexicano de la Tortuga – gute Idee, aber…

Das Schildkrötenzentrum im Ort kommt mir gerade recht, als es plötzlich heftig anfängt zu regnen und ich einen Unterstand brauche. In dem Zentrum soll es um die Erhaltung der verschiedenen Schildkrötenarten in Mexiko an Land und im Wasser gehen. Super, denke ich, da kann ich mir mal die Mamis von den Schildi Babys anschauen, die wir vor ein paar Tagen ins Meer entlassen haben. Ich stelle mir eine Art kleinen Serengetipark wie in Deutschland vor, nur hauptsächlich mit Schildkröten und nicht mit Tieren aus Afrika. 

Erneut: Guten Morgen in Mexiko, liebe Anna.

Ich sollte solche Einrichtungen einfach nicht mehr besuchen, das weiß ich eigentlich. Von kleinen, karg eingerichteten Käfigen für die Landschildkröten geht es weiter zu minikleinen, überhaupt nicht eingerichteten Basins der Wasserschildkröten. Als erstes sehe ich einen runden Pool, der ein größerer Swimmingpool für Kinder im eigenen Garten sein könnte. Erst erkenne ich nichts drin, weil das Licht so spiegelt, dann kommen immer mehr Schildkröten zum Vorschein, ich zähle über 20 auf einen Blick, und das sind nicht alle. Die größte ist über einen Meter lang.

Beeindruckt vom Anblick der Tiere bin ich im nächsten Moment geschockt davon, wo sie sich befinden. In so einem kleinen Ding? So viele? Mit nichts drin? Ein blaues Plastikbasin soll den Ozean imitieren, oder was? Seitdem ich Tiere in ihrer natürlichen Umgebung gesehen habe – und dazu zählen Schildkröten im Meer – kann ich so einen gefangenen Zustand nur noch schwer mit ansehen. Die Freude an der Tierbeobachtung ist jedenfalls schnell verflogen. Als nächstes geht es weiter zu kleinen badewannenartigen Konstruktionen, in denen die Baby Schildis gehalten werden. Immerhin sollen auch diese Babys bald in die Freiheit entlassen werden – so wird es zumindest erzählt.

Ich frage einen Mitarbeiter, was es mit dem kleinen poolartigen Basin auf sich hat, ob die großen Schildkröten darin auch wieder ins Meer kommen würden. Das sei viel bequemer für sie da drin, erklärt er, denn sie könnten ja im Kreis schwimmen. Will heißen: Viel besser als ihre anderen Unterbringungen. Von Freilassung ist nicht die Rede und ich habe auch meine Zweifel, ob ich ihn richtig verstanden habe, als er von bequem und besser spricht.

Die Klarheit folgt leider unmittelbar, als ich die Unmengen an weiteren “Badewannen” sehe, kaum größer als Wäschekörbe, in denen von klein bis groß etliche Schildkröten gehalten werden, die ihr trauriges Dasein fristen. In blauen Plastikdingern von vielleicht 40×80 cm. Mit ein bisschen Wasser drin und das wars. Kein Sand, keine Steine, keine Muscheln, keine Korallen, keine Pflanzen, nichts. Ich müsste nur mal in einen beliebigen Wäschekeller gehen und würde da ein passendes “Zuhause” für die Tiere finden, wenn es nach den hiesigen Standards geht.

Und das soll Conservación (Erhaltung) der Art sein. Ja, die Tiere werden vielleicht nicht so schnell gefressen, weil im blauen Plastikbehälter nicht so schnell ein Hai vorkommt. Aber das soll das Leben sein? So sieht die Erhaltung der Arten aus? Das wird stolz Besuchern und Touristen präsentiert, die das auch noch toll finden, weil sie die Tiere so nah sehen können? Außer mir macht sonst niemand, den ich sehe, einen betrübten oder hinterfragenden Eindruck.

Leider ist dieser Anblick, nachdem ich mir meiner Naivität über meine erste Erwartungshaltung bewusst geworden bin, keine Überraschung mehr. In Sachen Bewusstheit über das Leben, Lebensformen, Tierschutz und die Natur gibt es noch sehr viel Arbeit zu tun. Auf der ganzen Welt.  


Off to the Mountains – again

Weil mir die Küste einfach zu heiß ist und mein Körper hier keine richtige Erholung findet, beschließe ich, die Zeit bis zu Udos Rückkehr in der wunderschönen mexikanischen Gebirgsregion Chiapas zu verbringen. Außerdem ist das viel näher an Guatemala, wohin Udos Rückflug geht und wo wir uns als nächstes treffen wollen. Den vorerst letzten Tag am Pazifik sitze ich in einem Restaurant am Strand – einfach, weil ich gar nicht weiß, wo ich sonst hinsoll nach dem Auschecken aus dem Zimmer.

Klingt zwar schön und sieht auf den Bildern auch super aus. Mit laufender, völlig entzündeter Nase von meiner sich hartnäckig haltenden Erkältung in erdrückender Hitze ist es allerdings wirklich nicht angenehm und ich will eigentlich nur noch weg. Laut meinem letzten Gastgeber fahren Colectivos direkt an der nächsten Straße vorbei zu dem Ort, von wo aus die Langestreckenbusse gen Chiapas abfahren.

Komm hier erstmal weg 🤪

So stelle ich mich mit Sack und Pack am späten Nachmittag an die Straßenecke, wo bereits eine Mexikanerin mit ihren zwei Töchtern wartet. Ich frage sie, ob ich für das Colectivo richtig stehe und sie nickt, will selber auch in die Richtung. Na das passt doch. Als ein Taxi vorbeikommt, lässt sie die Mädels hinten einsteigen. Ich frage durchs Fenster, was die Fahrt kostet, der Fahrer sagt’s mir und sie zerrt die Mädels gleich wieder raus. Das sei der doppelte Preis von dem, was normal sei, erzählt sie mir. Wahrscheinlich, weil ich als Touristen mit dabei stehe. Ich entschuldige mich ihr, weil sie ja durch mich jetzt noch länger warten muss. Sie nimmt’s gelassen und macht nur eine abwertende Geste in Richtung Taxifahrer.

Das nächste Taxi hat nur einen Platz frei, sie deutet mir an, einzusteigen und als ich meinen Rucksack in den Kofferraum tun will, fährt das Taxi einfach davon und lässt uns alle stehen. Schließlich kommt ein Colectivo vorbei. In diesem sitzt man hier wie in einem großen Anhänger mit Plane, rechts und links je eine Bank, ein paar Stufen als Aufgang, keine Tür. Meine Freude, dass wir hier nun alle vier mitkönnen, hält nur kurz. Es gibt acht Sitzplätze und ca. 12 Personen sind bereits drin. Plus die Mom mit ihren zwei Mädels. Plus ich mal drei mit meinem ganzen Gepäck. Den großen Rucksack schiebe ich bis in die Kniekehlen der in der Mitte stehenden Person. Davor bleibt nur noch ein kleines Fleckchen auf dem Boden, wo mein Hintern gerade so hinpasst. Meinen kleinen Rucksack nehme ich auf den Schoß.

Kaum sitze ich, fährt das Colectivo auch schon los. Meine Beine hängen über die Stufen nach draußen, links halte ich meinen Rucksack, rechts keile ich meinen Unterarm in die Tür, um ein bisschen Gegendruck zu haben, der mich bergauf und in den Kurven im Gefährt hält. Statt dass bei den Halten zwischendurch jemand aussteigt, kommen noch zwei weitere Personen hinzu, die sich an mir, meinem Kram und den anderen Passagieren bis hinten durchquetschen. Wie das funktioniert, sehe ich zum Glück nicht, da mein Blick Richtung Straße geht und es viel zu eng ist zum Umdrehen. So geht’s ca. 30 Minuten durch die Berge in die nächste Stadt.

Außer dass es ganz schön unbequem ist und meine Arme mit der Zeit lahm werden, finde ich die Fahrt nicht weiter außergewöhnlich, nicht mal, dass ein Chico von draußen noch auf den Stufen steht und mit am Colectivo dranhängt. Siehe da, wie meine Komfortzone schon größer geworden ist 😁

Gedanke: Mir ist es hier an der Küste zu heiß und ich kann einfach entscheiden zu gehen. Diese Freiheit haben die meisten Menschen, denen ich hier begegne, nicht. Über meinen Aufenthaltsort entscheide ich ganz allein. Was für ein Privileg. 

Was ich zuhause nicht machen würde, und was hier “normal” ist: 

  • 4 Stunden alleine an der Haltestelle warten, um dann 12 Stunden im Bus durch’s Land zu fahren
  • Klopapier in den Mülleimer werfen, statt ins Klo 
  • Aus Gewohnheit keinen BH tragen, und das erst nach einer Woche merken
  • Mehrere Tage hintereinander dieselben Klamotten anziehen – die auch noch gut riechen, selbst bei der Hitze
  • Keinen Fön benutzen
  • Mich täglich in drei Sprachen unterhalten
  • Die meiste Zeit des Tages draußen verbringen

Eine Begegnung zum Nachdenken

Ich sitze alleine an der großen Busstation rum und vertreibe mir die Zeit, bis in 3,5 Stunden mein Nachtbus nach Chiapas geht. Hunger habe ich keinen und rumlaufen im Dunkeln will ich hier im Ort auch nicht. In den Supermarkt kam ich nicht rein, weil ich meinen Tagesrucksack mit allen Wertgegenständen dabei hatte. Eintritt nur ohne Rucksack. Ihn abzugeben kommt für mich nicht in Frage und so sitze ich halt rum und warte. 

Da setzt sich Alexa neben mich und fängt an, sich mit mir zu unterhalten. Alexa ist acht und wohnt hier. Sie hat eine Plastikschüssel dabei, wo noch ein paar Tortas drin sind, die sie verkauft. Das sind hier keine Torten, sondern eingepackte Schinken-Käse-Sandwiches. Sie gähnt ab und zu und sagt, dass sie schon voll müde ist. Wann sie denn nach Hause kann, frage ich sie. Wenn die Schüssel leer ist, ist ihre Antwort. Oh Mann. Da sind noch fünf oder sechs Dinger drin. Es ist 19 Uhr am Samstag und stockdunkel.

Weil Alexa es neben mir ganz angenehm zu finden scheint und immer wieder Fragen stellt, unterhalten wir uns weiter. Ich erfahre, dass sie vier Geschwister hat, und alle arbeiten im Familienunternehmen mit, entweder beim Verkauf auf der Straße oder im Gemüseverkauf im Laden der Mutter. Sie geht unter der Woche von 8-12 Uhr in die Schule. Ab 12:30 Uhr ist sie täglich auf der Straße und verkauft Tortas. 20 bis 25 Stück an Wochentagen, um die 40 am Wochenende.

Beim Erzählen gähnt sie immer wieder. Als zwischendurch zwei Busse kommen, entschuldigt sie sich kurz, flitzt hin und steigt ohne Zögern in die riesigen Fernbusse voller fremder Erwachsener und fragt mit kräftiger Stimme, ob jemand Tortas will.

So selbstverständlich, wie ich mir die Handtasche über die Schulter hänge, platziert Alexa die große Schüssel auf ihrem Kopf und marschiert damit wieder quer über den Parkplatz zurück zu mir. Ich gebe mir alle Mühe für einen möglichst neutralen Ton, wenn wir sprechen und ohne eine Bewertung durchklingen zu lassen. Zu keiner Zeit scheint sie irgendwie mit ihrer Aufgabe zu hadern. Das scheint für sie alles völlig normal und selbstverständlich zu sein. Mit acht! Dabei macht sie auch einen sehr gepflegten Eindruck, hat gekämmte Haare und trägt saubere Sachen. Sie dürfte damit in der oberen Hälfte der hiesigen Bevölkerung einzuordnen sein.

Keine Freizeit für eine 8-Jährige, kein Spielen, keine Freunde, keine Hobbys, kein Lernen für die Schule. Ein punktueller Einblick in das, was hier “normal” ist. 


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Kommentare

2 Antworten zu „#12 Alone Away Again“

  1. Avatar von Renate und Arwed
    Renate und Arwed

    Intressant! Beeindruckende Geschichte von Alexa

    1. Avatar von Anna
      Anna

      Ja, das finde ich auch.

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