workation Diary

#21 Das Beste am Ende

Nach sechs Tagen endet mein Aufenthalt in León. Freudig und ein bisschen stolz nehme ich von meiner Lehrerin Clara an unserem letzten gemeinsamen Tag mein Sprachzertifikat entgegen. Zur Feier des Tages – und weil ich jetzt nachmittags keine Spanisch Hausaufgaben mehr habe – lade ich mich auf einen Strandausflug ein, um den erfolgreichen Abschluss des Sprachkurses gebührend zu zelebrieren.

Eine Fahrt mit dem Chicken Bus

Momentaufnahme im Bus. Vor 18 min hätte er losfahren sollen. Heiß ist es. Ich schwitze unterm Hut, zwischen den Brüsten, auf den Augenlidern. Es läuft. Das Wasser steht in Tropfenform auf den Fingern, mit denen ich tippe. Fenster sind auf, Luft kommt kaum hinein. Einen Sitz am Fenster habe ich ergattert als eine der ersten im Bus. Der Bus ist schnell voll und voller geworden. Zu mir auf das klebrige kaputte Poster quetscht sich noch eine Frau dazu. Ich kann mich nicht erinnern, ob oder wann sich eine fremde Person schonmal derart an mich ran gedrückt hat. Auch, dass ich ruckelig versucht habe, einen Millimeter mehr für mich zu ergattern, blieb ohne Erfolg.

Einzelne Leute rufen durch den Bus, bieten frittiertes Süßes oder Wasser aus Plastiktüten an. Alle reden durcheinander, dazwischen lachen und heulen Kinder. Anstatt dass der Bus losfährt, steigt ein Mann hinzu, der lauthals anfängt, aus der Bibel zu rezitieren. Er steigert sich richtig rein, gestikuliert wild trotz der Enge. Immer noch keine frische Luft durch die Fenster. Die Hitze drückt von oben, die Frau von der Seite. Ich kann mich kaum rühren. Es läuft an mir runter. Vor 26min hätte es losgehen sollen.

Ich könnte losschreien. Welch Probe meiner Geduld, meiner Frustrationstoleranz. Ich überlege, den Bus zu verlassen. Einfach raus aus dieser lauten, engen Hitzebude. Dann eben kein Strand. Scheiß drauf. Allerdings hätte ich dann eine Stunde in der Hitze draußen und hier drin ausgeharrt für gar nichts.

Der Mann hört auch einfach nicht auf, lauthals über Gott zu philosophieren. MEIN GOTT!!! Was anderes fällt mir da echt nicht ein. Nicht mehr lange, denke ich mir. Das Flugticket ist bereits gebucht. Bald bin ich weg von hier. Und werde an Toleranz und Komfortzone ein ganzes Stück gewachsen sein. Und dann wird diese Bustortur nur noch eine Geschichte von vielen sein. 

Tatsächlich habe ich den Bus vorher knapp verpasst. Das darf echt nicht wahr sein. Das bedeutet es also, wenn er jede Stunde fährt und um 20 nach kommt. Er fährt dann eben nicht um 14:20 los, wie ich dachte, sondern kommt um 14:20 und fährt um 15:00 Uhr, wenn er bis unters Dach mit Menschen und ihren Hausständen gefüllt ist. Man sitzt sich gegenseitig auf den Schößen, steht dicht aneinander gedrängt im Gang. Und das bei den triefenden Körpern. Mein Bikini, den ich drunter habe, ist inzwischen komplett nass.
Ein langes Hupen leitet – hoffentlich – die Abfahrt ein. Der Motor ist schon mal gestartet. Und es geht tatsächlich los. Der Wahnsinn.

Der Busfahrer fährt ordentlich. Kein Vergleich zum Kängurugas, das wir aus El Salvador kannten. Ein Muchacho fängt an, sich durch die Massen zu drängen und das Geld einzusammeln. 18 Cordobas kostet die Fahrt, 49 Cent. Wie immer, behalten sie bei derlei Transporten irgendwie den Überblick darüber, wer schon gezahlt hat und wie viel. Warum nicht beim Einsteigen gezahlt wird, sondern diese Quetscherei sein muss, bleibt mir ein Rätsel.

Vorbei geht es an viel Grün. Palmen, Papayabäume, versteckte Häuser und Wellblechhütten zwischen den Büschen. Gefühlt alle 150 Meter hält der Bus an und es steigt jemand zu oder aus. So auch meine quetschige Sitznachbarin, die sogleich abgelöst wird von einer Mutter mit ihrer vielleicht 6-jährigen Tochter. Mit Zahnlücke und großen Kulleraugen werde ich angegrinst und diene gerne Entdeckungsobjekt der Kleinen. Beide zusammen nehmen weniger Platz ein als ihre Vorgängerin. Das gefällt mir doch schon besser. Und solange es voran geht und Luft reinkommt, ist alles auch schon nur noch halb so wild. 

Außer mir ist noch ein weiterer weißer Fahrgast hinten im Bus. Angesagt wird natürlich nichts. Man weiß, wo man hin will – und erkennt es selbst, wenn man da ist, das Spiel kenne ich ja schon 🙄

Auf der offline Karte verfolge ich unseren Weg. Und schließlich spricht mich auf englisch ein netter Mann an, wo ich hin möchte, und zeigt mir dann die richtige Haltestelle. Aus den angekündigten 20 Minuten Weg sind 50 Minuten geworden. Inklusive der anfänglichen Warterei habe ich also fast zwei Stunden zum nahegelegenen Strand gebraucht. Nun denn. Dafür ist der Strand ganz schön, es gibt wirklich viiiieeele Muscheln. Da es schon nach 16 Uhr ist, ist die Sonne schon milder geworden und so, wie es aussieht, könnte der Sonnenuntergang hier ganz gut werden.

Taxi fahren in Nicaragua – Monkey Mind sitzt mit drin

Nachdem ich noch eine Runde ins Wasser gegangen bin und mir einen leckeren Drink an der Strandbar gegönnt habe – inklusive wirklich ziemlich schönem Sonnenuntergang, kümmere ich mich langsam um den Rückweg, denn bald soll der letzte Bus abfahren. Wann genau, dazu kriege ich vom Barpersonal auf die selbe Frage drei verschiedene Antworten… 

Also stelle ich mich an die Straße und warte einfach mal ab. Kurz darauf hält ein Taxi vor mir, fragt, ob ich mit will für 50 Cordobas (1,26 €) bis zum Markt, wo mich auch der Bus hinbringen würde. Der Bus würde die Hälfte kosten, aber bei diesen Beträgen muss ich nicht lange überlegen und zack sitze ich auf dem Beifahrersitz und los geht’s. Der Taxifahrer, Javer, meint, er hätte für 500 Cordobas Gäste hier zum Strand gefahren. Bevor er jetzt mit leerem Auto zurück fährt, bietet er dann gerne ein günstiges Angebot an. Wir freuen uns beide über den Deal und biegen sogleich aus dem Ort aus Richtung Landstraße.

Plötzlich dämmert mir, dass ich gerade einfach eingestiegen bin, ohne vorher noch ein paar kritischen Fragen zu stellen oder genau abzuwägen, ob ich das jetzt machen sollte. Ich sitze defacto mit einem fremden Mann um die 50 im Auto und wir sind jetzt mindestens 20 Minuten weit ab vom Schuss alleine unterwegs. Es weiß niemand, wo ich bin und was ich mache. Immer schön zu fremden Männern ins Auto einsteigen – wie man es als kleines Mädchen gelernt hat. Not 🙈

Mein Deutsches-Ich hat innerlich die Augenbrauen hochgezogen und die Lippen gekräuselt. Ich merke, wie mir Blut in den Kopf steigt. Ich atme tief in den Bauch und versuche, meinen Monkey Mind zu beruhigen, der gerade anfängt, kreative Szenarien zu entwickeln, was alles horrormäßiges in den nächsten Minuten passieren könnte. Zumal es immer dunkler draußen wird. Was oftmals hilft und mir zum Glück in diesem Moment gelingt: Den Shift ins Hier und Jetzt.

Horrorszenarien spielen sich in der Zukunft ab. Die Gegenwart ist jedoch JETZT. Und im Jetzt sitzt ein sehr höflicher und netter Javer neben mir, mit dem ich mich freundlich unterhalte. Er stellt Fragen, wo ich herkomme, wo ich spanisch gelernt habe, was mir an Nicaragua gefällt. Wir unterhalten uns über das Wetter und ich erfahre, dass er mit seinen Eltern zusammen wohnt und sein Lieblingsstrand Las Penitas ist, wo wir gerade herkommen. Alles in Ordnung. Kein Horror in Sicht. Schließlich entspannt sich auch mein Deutsches-Ich, als nach ca. 10 Minuten eine weitere Frau hinzusteigt, die sogar den selben Preis zahlt, wie ich. Alles koscher, alles gut. Meine Intuition hat mich nicht im Stich gelassen, als sie mich mit gutem Gefühl bei Javer einsteigen ließ. 

Pünktlich zum Ortseingang startet erneut, was die Blitze in den Wolken am dunklen Nachthimmel schon auf der Fahrt angekündigt hatten: Kaum fahren wir in León ein, fällt massenweise Platzregen vom Himmel und flutet binnen weniger Momente die Straßen. Moment mal, hatten wir das nicht schonmal?! Im Nieselregen zwischen den heftigen Schauern mache ich mich zu Fuß auf zum Hostel, nachdem Javer mich wie besprochen am Markt rausgelassen hat. Wie auf Eiern und im Schneckentempo komme ich voran, da die Kombination Flipflops + glatte Fliesen vor den Hauseingängen + Regen gleich die gewohnte Rutschpartie ergibt.

Im Hostel angekommen, finde ich die Schildi vor meinem Zimmer wie sie in aller Seelenruhe an einer Sternfrucht knabbert, die auf dem Boden liegt. Schildi ist ganz nass. Platzregen scheint ihr also nicht so viel auszumachen. 

Was für ein erfolgreicher und abenteuerlicher Tag. Morgens Abschluss des Sprachunterrichts mit Zertifikat, nachmittags Chicken Bus Abenteuer, Strand und Sonnenuntergang, abends Taxifahrt mit Herzklopfen, Platzregen und Schildkröte. Ich glaub, ich geh dann mal ins Bett 😴

Das Beste kommt zum Schluss: Granada

Für insgesamt 137 Cordobas (3,46 €) inkl. Aufschlag fürs Gepäck fahre ich morgens über die Hauptstadt Managua in Nicaraguas schönste Stadt, nach Granada. Das Hostel Oasis macht seinem Namen alle Ehre und ich fühle mich gleich wohl: Mein Zimmer ist deutlich gemütlicher und liebevoller gestaltet als die vorherigen und das Hostel wird allen Erwartungen gerecht.

Gerade ist ein super schöner Moment. Ich sitze mitten im Hostel, es weht eine ordentliche Brise durch das Gebäude. Es läuft Chillmusik, das Sofa ist bequem und wenn ich über den Bildschirm hinaus blicke, sehe ich Hängematten, Palmen, eine Bar (wo die Cocktails 2-3 Dollar kosten, und ich mir davon später sicher noch einen bestellen werde) und einige andere Reisende, die hier und da sitzen, stehen oder liegen, sich unterhalten, rumlaufen oder den Kopf gebeugt über ihr Handy halten. Zum ersten Mal in zwei Wochen habe ich wieder Lust und Energie, mich an den Computer zu setzen und produktiv zu sein.

Haha, von wegen produktiv 😂

Kaum habe ich 11 Zeilen Text verfasst und Empfehlungslisten für Unterkünfte & Co. auf den aktuellen Stand gebracht, ist es mit der Produktivität auch schon wieder vorbei. Auf nette Weise: Ich schaue zur Bar und kann mich gar nicht entscheiden, welchen der budgetfreundlichen und lecker klingenden Cocktails ich als erstes bestellen will. Da steht plötzlich Martin neben mir, dem es ähnlich zu gehen scheint. Wir beraten uns gegenseitig zur Getränkewahl, bestellen schließlich einen Mojito und einen Daiquiri und kommen darüber ins Gespräch, das für die nächsten sechs Stunden andauern soll. Martin ist Anfang 30 und kommt aus Wien. Wir können herrlich über Gott und die Welt sprechen und freuen uns beide, dass der jeweils Andere keine Lust auf das Bierpong-Tournier hat, was zeitgleich im Hostel stattfindet und an dem die meisten jüngeren Reisenden ihren großen Spaß haben. 

Was Schönes vor dem Abschied

Um nicht nur im Hostel zu hocken und die Abreise abzuwarten, drehe ich noch eine Runde durch die Stadt und buche mich für den nächsten Tag in die Tour durch die Isletas von Granada ein. 365 kleine Inselchen bilden ein wunderschönes Landschaftsbild, durch das wir als Reisegruppe mit unserem Boot fahren. Gestärkt mit einer frischen Kokosnuss und vorbei an der Affeninsel, wo uns ein paar ihrer Bewohner begrüßen, erfreue ich mich an dem ansonsten unaufgeregten und entspannten Ausflug.

Zurück im Hostel schwimme ich eine Runde durch den Pool und bereite in aller Ruhe mein Gepäck und alle Unterlagen für die baldige Abreise nach Kolumbien vor. Was cool ist: Zufällig haben Udo aus Deutschland und ich aus Nicaragua beide einen Zwischenstopp in Miami, bevor wir nach Kolumbien weiterfliegen. Wenn es klappt, treffen wir uns also schon früher als gedacht ☺️

Mit Hostelkumpel Martin, zwei neuen leckeren Cocktails und ein paar anderen deutschsprachigen Reisenden verbringe ich die letzten Stunden in Nicaragua auf der Dachterrasse des Oasis Hostels. Obwohl im Hostel insgesamt sehr viele Gäste sind, findet sich auf der Terrasse nur diese kleine Gruppe zusammen. Wir tauschen Reisegeschichten und Pläne aus und es fühlt sich so richtig nach Community an. Die Abendluft ist angenehm und klar, die Gespräche sind fröhlich, das Essen im Hostelrestaurant ist lecker und die guten Cocktails bilden das i-Tüpfelchen.

In diesem Moment fühle ich mich so richtig wohl und verbringe an meinem letzten Abend den schönsten meiner ganzen Zeit in Nicaragua. Ein grandioser Abschluss. Soll man nicht gehen, wenn es am schönsten ist?

Nicaragua – ein Resümee
Nach El Salvador ist Nicaragua erneut ein Land voller Highlights und mit (für mich) wackeliger Basis. So richtig finde ich keinen Zugang zur lokalen Bevölkerung und fühle mich sehr isoliert in meiner Touristenblase. Die Lebenskonzepte klaffen so sehr auseinander, dass es sich für mich eher nach einem Nebeneinander, statt einem Miteinander anfühlt. Wieder einmal wird mir mein privilegiertes Leben sehr deutlich vor Augen geführt.
Gleichzeitig merke ich, dass ich mittlerweile nur schwer auf einige dieser Privilegien verzichten kann. Die zehn Tage Nicaragua waren auf dieser Reise für mich bisher die herausforderndsten. Dennoch sind noch einige Erlebnisse offen geblieben, die ich gerne noch mit Udo teilen würde. Noch einmal in einen glühenden Lavastrom schauen und über einen aktiven Vulkan wandern wäre schon noch toll…

Aber erstmal freue ich mich auf einen Ausflug in den Frühling.

Colombia: Nos vemos!


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Kommentare

2 Antworten zu „#21 Das Beste am Ende“

  1. Avatar von Renate und Arwed
    Renate und Arwed

    Na immerhin ein schönes Ende! Ende gut, alles gut?! Einiges an neuen Erfahrungen! Neue Erkenntnisse! Eine Bereicherung war es auf alle Fälle!

    1. Avatar von Anna
      Anna

      Genau :)

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