“Hast du heute Nacht die Holzwürmer gehört?”, fragt mich Udo, als ich morgens zum ersten Mal die Augen aufmache.
Bis wir aus dem Flieger raus waren, unser Gepäck erhalten, einen Fahrer organisiert, unsere Unterkunft gefunden und alle Instruktionen unseres netten Gastgebers bis zu Ende angehört hatten, war es knapp halb drei Uhr morgens geworden.
Um nicht bei jedem Geräusch von draußen oder drinnen gleich wieder aufzuschrecken, habe ich mir vorsorglich gleich mal Oropax reingemacht und auch ziemlich schnell geschlafen.
Insofern nein, die Holzwürmer habe ich nicht gehört. Kann man Holzwürmer überhaupt hören? “Naja, das klang halt nach einem leisen Fressgräusch und es kam aus den Wänden, also ich glaube schon”, lautet Udos Einschätzung. Ein Blick in die Enzyklopädie namens Google bestätigt diese Annahme. Geht. Kann man hören. Damit wandern Holzwürmer wohl auf die Liste der Tiere, die uns auf der Reise begegnet sind. Auch wenn wir nur ihre Resultate und nicht sie selbst sehen konnten; hören zählt auch.
Puh. Das ist mal eine Umstellung. An Tag 1 in Peru konfrontiert uns schon unsere Unterkunft in der Nähe des Flughafens ohne wattebauschige Touristenblase mit den lokalen Gegebenheiten. Weit und breit sind wir die einzigen ausländischen Gäste. Unser gebuchtes AirBnB gehört einer Familie aus dem Ort. Es fällt kaum Licht ins Gebäude. Auch kann man kein Fenster öffnen. Die Einrichtung macht den Eindruck, als ob hier vor 40 Jahren vielleicht mal alles ganz passabel war, dann jahrzehntelang nichts passiert ist und vor unserer Ankunft mal kurz Staub gewischt wurde. Immerhin funktionieren Licht und Toilettenspülung.
Der Blick von der Dachterrasse ist geprägt von einem beige-grauen Einheitseindruck. Die Häuser haben keine Dächer im bekannten Sinn, sondern meist eine Art unüberdachte Dachterrasse, die als Abstellfläche oder Alternative zum Keller genutzt zu werden scheint. Auf der Nachbarterrasse ist ein mit flatterndem und gackerndem Federtier üppig gefüllter Hühnerstall. Kaum eine Hausfassade scheint “fertig”, überall sieht man die nackten Steine mit heraus quellendem Mörtel dazwischen. “In Nepal zahlt man keine Steuern, solange das Haus noch nicht komplett fertig ist. Also ist quasi nirgends ein Haus richtig fertig. Vielleicht ist das hier auch so”, merkt Udo mit Blick von der Terrasse an. Seine Einschätzung wird sich später bestätigen.
Wir machen uns auf die Suche nach einem Frühstück und erkunden ein wenig die umliegende Nachbarschaft. Was unweigerlich ins Auge fällt, da man jeden Schritt mit Bedacht setzen muss: etliche Hundeexkremente säumen die Straßen und Gehwege. Es riecht auch danach. Trotz durchgehend frischer Brise, die andernorts schlechte Gerüche immer schnell vertrieben hat, zeigen sie hier mehr Hartnäckigkeit. Und lassen auch vermuten, dass nicht nur Hunde die Straßen als Toilette benutzen. Grünflächen gibt es kaum, und wenn, sind sie umzäunt. Fußboden = Beton. Die bekannte Geräuschwelle empfängt uns mit zunehmender Nähe zur größeren Straße. Unzählige Tuktuks und Minibusse teilen sich die Straße mit Motorrädern, Autos und Trucks.
Zum Kontrast hören wir aus großen Boxen aktuelle Songs von Adele und Miley Cyrus, die uns erinnern, dass wir uns doch nicht in einer anderen Welt, sondern “nur” in einer anderen Gegend unterwegs sind.
Findest du hier was?
Schnell dürfen wir lernen: Das typische Frühstück geht hier schon mit Hähnchen los. Heißt für uns: trockenes Weißmehlbrötchen mit schwarzem Kaffee. Die einzige vegetarische Variante, die wir finden können. Immerhin. Der Gedanke an eine gesunde Frühstücks-Smoothie-Bowl scheint in diesem Moment so weit weg wie ein Sprung in den See im Bikini mitten im Winter.
“Ich find’s gut, dass wir das sehen”, sagt Udo, als wir zur Unterkunft zurückgehen, um unsere Sachen zu packen. “Das gehört zum Land. Es ist wichtig, auch diese Seite zu kennen”.
Auch in den anderen Ländern haben wir natürlich schon etliche Eindrücke der weniger betuchten Gegenden gesehen. Selbst in Panama City, das vor allem durch seine wirtschaftliche Entwicklung – sichtbar in zahlreichen Wolkenkratzern – buchstäblich glänzt, sind wir durch Viertel gefahren, die vom Erfolg der Wirtschaftlichkeit das kleinste Stück des Kuchens abbekommen, wenn überhaupt eines.
Den Unterschied hat bisher gemacht, dass wir uns überwiegend in den Ortszentren aufgehalten haben. Dort, wo sich der Tourismus abspielt und Unterkünfte, Gastronomie und Läden des täglichen Bedarfs angesiedelt sind. Insofern lernten wir Außenbezirke meist nur im Vorbeifahren oder -gehen kennen. Die rein lokale Seite, die für die meisten Menschen in Lateinamerika Alltag ist, erleben wir daher umso intensiver an unserem ersten Tag in Peru, denn wir befinden uns mittendrin.
Welche weiteren Seiten des Landes wir noch kennenlernen werden, wissen wir an dieser Stelle noch nicht. Die voll gefüllten letzten Tage ließen nicht zu, dass wir uns mit mehr als der Planung des nächsten Tages beschäftigten. Eine ausführliche Recherche über die Alltäglichkeiten und Besonderheiten des Landes Peru ist bisher ausgeblieben.
Die zweite Seite der Medaille
Kein Schatten ohne Licht, keine Nacht ohne Tag, keine Seite der Medaille ohne die andere.
Unser nächstes Interimszuhause liegt weiter zentral in dem “angesagteren” Viertel Barranco der Stadt Lima. Es könnte keinen größeren Kontrast zu unserem vorherigen bilden. 25 Autominuten bringen uns von der einen Welt in eine andere.
Das Ancestral Hostel empfängt uns mit hohen Decken, lichtdurchfluteten Räumen, farbenfroh und künstlerisch gestalteten Wänden und einer Einrichtung, die keine Wünsche des Reisendenherzes offen lässt. Getoppt wird das Ganze noch von unserem nächsten Restaurantbesuch: Im Florencia wartet auf uns die leckerste vegane Küche, die wir uns vorstellen können, und fürs Auge gibt es auch noch einen Weihnachtsbaum! Eine ganze Seite in der Speisekarte enthält nur gesunde Bowls in allen möglichen Varianten. Ein Traum?! Wir bestellen uns eine Vorspeise und drei Hauptgerichte, weil wir uns gar nicht entscheiden können und wackeln danach kugelrund zur Unterkunft zurück (und heben uns die Bowls für eines der nächsten Male auf).
Wie krass. Das ist dieselbe Stadt, in der unser Frühstück aus einem geteilten trockenen Brötchen bestand. Die Eindrücke dürfen sich erstmal setzen. Das klappt ganz gut, da auch das Hostel über eine der typischen Dachterrassen verfügt. Nur erinnert diese nicht an ein Sperrmülllager, sondern bietet mit gemütlichen Sofas, Liegestühlen, moderner Musik und einem Blick zum Meer einen angenehmen Rückzugsort. Nur dann und wann ruft eine vorübergehende Geruchswolke noch ein paar Impressionen der ersten Nacht hervor. Mh. Das scheint ein peruanisches Ding zu sein. Wird uns nämlich noch in so ziemlich jedem Ort und jeder Unterkunft immer mal wieder um die Nase wehen.
Eindrücke in Lima (Zentrum):
- erste regelmäßige Kinderwagen auf den Straßen, wurden bisher die Babys und Kleinkinder doch ausschließlich in Tüchern auf dem Rücken oder vor der Brust getragen
- Es gibt nach fast vier Monaten vegetarischer Ernährung in Lateinamerika immer noch Gemüse, das wir nicht kennen
- Panettone gibt es überall. Scheint hier der Weihnachtskuchen zu sein
- Bekannte Christmas Songs laufen in Dauerschleife im Supermarkt. Das einzige, was neben Deko hier und da bei uns für ein bisschen Weihnachtsstimmung sorgt.
- Das Land des Brotes! Das erste – nach meinen Maßstäben – richtige Brötchen nach 4 Monaten!!!
- Tolles Reise und Abenteuergefühl
- Gute Energie in der Stadt
- Neu: Mit InDrive gibt es einen Fahrservice ähnlich wie Uber, nur dass man mit den Fahrern um den Fahrpreis bietet.
- Wintergarderobe aus Alpakawolle: überall und besonders schön 😍
Gedanken und Gefühle
Hier lebt das Glücksgefühl des Reisens. Kein Heimweh, einfach happy unterwegs zu sein. In Deutschland soll ein Orkan durch die Weihnachtstage fegen. Da will ich überhaupt nicht tauschen. Stattdessen beschäftigt mich, wie ich es logistisch anstelle, doch noch den ein oder anderen Poncho, Strickkleid, Stulpen, Mützen oder Schals aus Alpakawolle mitnehmen zu können, obwohl der Rucksack jetzt schon knallvoll ist (und Udo schon ein langes Kleid von mir in seinem trägt, das ich in Cali gekauft habe 😬). Die Sachen sind einfach so schön. Ich könnte meine gesamte Wintergarderobe hier zusammenstellen.
Sweet Time in Lima
Lima gefällt uns gut. Das Hin- und Herfahren ist einfach durch die InDrive-App, die uns meistens einen günstigen sofortigen Trip von Tür zu Tür quer durch die Stadt ermöglicht. So machen wir einen Rundgang durchs historische Viertel (mit seinen unzähligen Shops mit super schönen Alpakaklamotten 😍) und kaufen einen Poncho für mich – schließlich soll es ja kalt werden in den kommenden Hochebenen und ich hab nur Sommerklamotten mit, und essen wunderbar in verschiedenen Restaurants und Cafés.
Fun Fact: Mir stehen viele Ponchos total gut, Udo sieht dagegen aus, wie für den Fasching rausgeputzt 😂 – die männlichen Modelle (die zugegeben sehr ungünstig geschnitten sind), stehen ihm überhaupt nicht, und die weiblichen sind ihm viel zu klein. Somit gibt es leider keinen Poncho für Udo, meine Garderobe wächst dafür weiter.
Außerdem schauen wir zum Stadtstrand, der uns nicht gerade vom Hocker reißt, und machen kleinere Touren hier und da durch einen der vielen kleinen Parks.
Besonders schön: Eines Abends treffen wir Udos Reisefreundin aus Brasilien, die mittlerweile in Lima lebt. Bei leckeren Drinks und lustigen Gesprächen fühlt es sich so an, als hätten wir übers Wochenende mal eben eine Freundin in einer anderen Stadt besucht – nur dass diese Stadt Lima ist und auf einem anderen Kontinent liegt 🙃 Mit ein paar Insidertipps von ihr im Gepäck sind wir dann auch schon bald fertig zum Weiterreisen, denn wir haben gar nicht sooo viel Zeit in Peru eingeplant. Ein Umstand, den wir schon jetzt ein bisschen bereuen…
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